Der Winter hatte früh Einzug gehalten und am Nordpol war es seit Wochen klipperkalt. Der Eisbär konnte sich dank großer Auswahl richtig sattfressen. Doch eines Morgens wachte er auf und fühlte sich schlecht. In seinem Kopf hämmerte es, in seinem Bauch polterte es und die Glieder hingen ihm schlaff herunter. Er schleppte sich an die frische Winterluft, aber das half nicht. Dann suchte er sich einen Frühstücksimbiss, doch das half auch nicht. Der Eisbär trottete mit hängendem Kopf durch die Morgendämmerung und wusste nicht, wie er sein Unwohlsein ändern konnte.
Da kam er an der Weihnachtsmann-Siedlung vorbei. Eigentlich durfte er sich den Häusern und Ställen nicht nähern. Es war zu gefährlich und die Menschen würden ihn lauthals verjagen. Doch diesmal wurde er magisch angezogen und konnte dem Drang nicht widerstehen. Es war noch früh am Tag, in den Gassen war niemand unterwegs. Der Eisbär schlich zwischen den Häusern umher, ohne zu wissen, wohin er so recht wollte. Aus den Fenstern strahlte ihn die festliche Beleuchtung an und manchmal blieb er stehen, um einen besonders schönen Schwibbogen zu betrachten.
Mit einem Mal stieg ihm ein zarter süßer Duft in die Nase. Er streckte sie in die kalte Winterluft und schnupperte ihm nach. Auf leisen Tatzen folgte er dem Geruch, wie ein Jäger, der sich an seine Beute heranschlich. Am Ende der Gasse lag das Haus des Weihnachtsmannes. Durch ein offenes Tor fiel ein Lichtschein in den Hof und je näher der Eisbär dem Leuchten kam, umso stärker wurde auch die süße Luft in seiner Eisbärennase. Nur wenige Schritte, und er stand vor einem offenen Garagentor, vor dem frische Schlittenspuren und Rentiertapsen zu sehen waren.
Vorsichtig steckte er die weiße Fellnase hinein und wurde sogleich von einer Woge Plätzchenduft erfasst. Und da erklärte sich das Unwohlsein vom Morgen! Nach der ganzen herzhaften Futterei hatte er Appetit auf Süßes! Sein Körper drängte ihn danach, etwas Feines, Zartes mit Zucker Überzogenes, mit eingebackenen Mandeln oder Rosinen und mit bunten Streuselperlen Verziertes zu essen. Deshalb war ihm auch der Plätzchenduft von Weitem aufgefallen und hatte ihn hierhergeführt. In der Garage lagen unzählige Bleche dicht belegt mit frischgebackenen Weihnachtsplätzchen, mit Kipferln und Korinthen, mit Lebkuchen und Makronen, mit Spitzbuben und Honigprinten. Ein Paradies für zuckerhungrige Eisbären!
Unser Fellfreund schlich hinein und wusste nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Dann griff er mit der großen Tatze nach den ersten Lebkuchen und konnte nicht wieder aufhören. Er futterte sich von einem Blech zum nächsten und schleckte dann auch noch die letzten Krümel aus dem Fell. Jetzt ging es ihm wieder gut! Das Kopfbrummen und das Bauchweh vom Morgen waren wie von Zauberhand verschwunden. Er legte sich in eine warme Ecke, schloss für einen Moment die Augen und träumte von zuckersüßen Plätzchenbergen.
Da rumpelte es plötzlich nebenan und eine Türklinke wurde heruntergedrückt. Sofort war der Eisbär wieder hellwach! Mit großen Schritten sprang er zum Garagentor hinaus. Hinter ihm erklang ein gellender Schrei und zwei Gegenstände sausten an seinen Ohren vorbei. Nur wenige Millimeter fehlten, sonst hätten sie ihn am Hinterkopf getroffen und eine böse Beule verursacht. Der Eisbär rannte so schnell sein vollgefutterter Bauch es zuließ. Er lief geradewegs in die Berge und versteckte sich in seiner schützenden Höhle. Das Herz hämmerte in seiner Brust und beruhigte sich nur langsam. Er schnaufte wie eine alte Dampflok, die sich mühsam durchs Gelände schob. Die ganze Freude über die süße Schlemmerei war im Nu verflogen und jetzt drückte ihm der Bauch von der großen Fresserei.
Drei Tage und Nächte verkroch er sich in seiner Höhle und befürchtete, die Menschen könnten ihn aufspüren. Aber er hatte Glück und niemand kam. Die lange Ruhezeit tat seinem überzuckerten Körper gut. Als er sich am vierten Tag wieder hinaus traute, suchte er sich nur einen kleinen Eisbärenimbiss und machte um die Weihnachtsmann-Siedlung einen größeren Bogen als je zuvor.
So lecker die Plätzchen auch waren, aber er wollte niemals wieder so viele auf einmal essen und auch nie wieder heimlich welche stibitzen.
Wenige Tage später kam von Familie Weihnachtsmann eine Einladung zum Festessen bei ihm an. Ob er sich an den Ort seiner Schandtat zurück traute? Er zögerte zuerst, doch dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen. Höflich entschuldigte er sich bei Frau Weihnachtsmann. Und in Zukunft durfte er regelmäßig zu Besuch kommen, ihr beim Plätzchenbacken helfen und dabei hier und da etwas wegnaschen.
Habt ihr schon die andere Seite der Geschichte gelesen? Hier geht's zum "Weihnachtszoff".
Ich wünsche allen Kindern und Erwachsenen im Salzatal ein wunderschönes Weihnachtsfest mit zauberhaften Momenten und spannenden Geschenken!
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.