An einem strahlendschönen Morgen trat Willi aus seinem Haus, räkelte sich und beschloss, nach Ägypten zu reisen. Viele Nächte erschien ihm das ferne Land mit den hohen Bergen schon in seinen Träumen: Heiße Sonnenstrahlen, die Sand und Steine zum Glitzern brachten. Fremde Gerüche und Geräusche, die durch die Luft schwebten und in der Nase kitzelten. Schluss mit der Träumerei, dachte er sich. Ich will nach Ägypten!
Seine Familie erklärte ihn für verrückt. Wusste er denn nicht, wie weit das war? Und welche Gefahren ihm begegnen würden. Willi würde unterwegs umkommen! Dabei war es doch so schön in Omas Garten am Rande von Höhnstedt. Doch Willi ließ sich nicht abbringen. Er packte ein paar Sachen und Proviant ein, verabschiedete sich und brach auf.
Nach drei Tagen begegnete ihm Astrid. Willi schwärmte ihr von seinem Reiseziel vor und steckte sie mit seiner Begeisterung an. Astrid wollte zu gern mitreisen. Sie bettelte ihn an. Sie sei gut zu Fuß. Ihr Großeltern hatten den Spitznamen „Wanderameisen“. Er wollte schon entgegnen, sie sei viel zu klein, es wäre zu weit, und viel zu gefährlich, aber da hielt er inne. Dasselbe hatten sie ihm auch gesagt. Und trotzdem war er aufgebrochen. Warum sollte Astrid es nicht ebenso versuchen? Er willigte ein und hatte ab sofort eine Reisegefährtin dabei.
Die zwei Wanderer waren zu Beginn vollkommen ahnungslos, was ihnen alles begegnen würde. Da war ein schlimmer Sturm, der eines Abends losbrach. Sie schafften es nur knapp in eine Höhle zu flüchten. Sonst wären sie wie ein Blatt davongeflogen. Wenig später folgte ein heftiger Regen, der alles wegspülte, was sich nicht festhielt. Der Sturm peitschte die Regentropfen in Willis und Astrids Zuflucht. Verzweifelt gruben sie sich tiefer in den Felsen hinein. Als kein Funke Kraft mehr in ihnen steckte, legten sie sich für eine kurze Pause in die hinterste Ecke und schliefen vor Erschöpfung ein. Drei Tage später erwachten sie von freundlichem Vogelgezwitscher. Sie waren mit dem Schrecken davongekommen.
Ein anderes Mal bemerkte Willi einen Schatten, der sie am Feldrand verfolgte. Sie versuchten, ihm zu entkommen, aber er ließ sich nicht abschütteln. In einem dichten Dornengebüsch versteckten sie sich und hielten den Atem an. Der Schatten kam näher und beugte sich über ihr Versteck. Hässliche dreckige Krallen bogen die Zweige auseinander. Ein garstiges Räubergesicht mit langer Hakennase neigte sich über sie. Da federten die herabgebogenen Zweige zurück und schlugen dem Verfolger ihre scharfen Dornen mitten ins Gesicht. Er schrie auf, taumelte rückwärts und lief jaulend davon. Willi und Astrid warteten noch eine Weile, bevor sie aus ihrem Versteck krochen und eilig das Weite suchten.
Nach einhundert Reisetagen überquerten sie eine Bergkuppe. Im Tal vor ihnen breitete die Abendsonne einen feinen Goldschimmer aus. Ein fremdartiger Geruch stieg Willi in die Nase. Da seufzte er tief und sagte: „Hier ist es!“ Zur Sicherheit fragte Astrid zwei Marienkäfer am Wegrand, ob das hier Ägypten sei. Die zwei nickten freundlich und antworteten: “Ja, die Gegend heißt Egypten.“
Am Abend erzählten Willi und Astrid von ihrer Reise und ihren Abenteuern. Da flüsterte der eine Marienkäfer zum anderen: „Ob die zwei wissen, dass sie hier in Egypten bei Höhnstedt und nicht in Nordafrika sind?“ „Ach lass sie doch!“, bekam er zur Antwort, „Wann hast du schon mal eine Weinbergschnecke und eine Ameise gesehen, die so glücklich und zufrieden sind. Jeder hat irgendwo und mit irgendwem sein Ägypten.“
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