Am Saaleufer bei Schiepzig lebten seit langem einige Waschbären. Die fühlten sich sehr wohl und hatten alles, was sie zum Leben brauchten. Weil sie sich mit den anderen Tieren gut verstanden und ihre Anzahl nicht überhandnahm, gehörten sie wie die Biber zur Nachbarschaft.
Je weiter aber der Bau der Autobahnbrücke über die Saale voranschritt, umso ungemütlicher wurde es. Die Menschen mit ihren Baugeräten und ihrem Krach störten die Waschbären. Da beschloss eine Gruppe aus zwei älteren und zwei Jungtieren, sich nach einem ruhigeren Platz umzusehen. Am Tage schliefen sie in den Bäumen und Erdlöchern am Fuße der Gartenanlage und nachts durchstreiften sie die Gegend.
Die Tiere suchten nach einem Ort mit sanften Hügeln, Bäumen, Büschen und Sträuchern, einem See oder einem Bachlauf und viel Abwechslung zum Lernen und Spielen für die Kleinen. Bei einem Streifzug kamen sie in die Nähe von Lieskau und entdeckten die alte Tongrube. Es war eine sternklare Nacht und das Mondlicht spiegelte sich im blauschwarzen See. Die Felswände strahlten, als wären sie mit Kreide angemalt. Vor Staunen stolperten die Waschbären sich gegenseitig über die Tatzen. So ein schöner Fleck Erde! Mit weit aufgerissenen Augen erkundeten sie die Gegend. Wie Forscher bei einer großen Entdeckung nahmen sie alles genau unter die Lupe. Sie hoben auf, was ihnen interessant schien, drehten und wendeten es in ihren kleinen Bärentatzen und manchmal knabberten sie auch darauf herum. Ganz in der Nähe fanden sie aufgetürmte Walnüsse, Kastanien und Eicheln. Die schmeckten wahnsinnig lecker! Die Kinder spielten zuerst damit, bevor sie die Waldfrüchte genüsslich aßen. Und weil sie dabei nicht stillstehen konnten, sondern vor Freude wie aufgezogen herumsprangen, verteilten sie die Krümel und Schalenreste rund um den See. In der Morgendämmerung verließen die Waschbären die Tongrube und freuten sich schon auf die nächste Nacht.
Am darauffolgenden Abend kamen sie wieder und diesmal untersuchten sie den Uferbereich. Unter den Steinen lebten kleine Spinnen und Käfer, die ganz hervorragend schmeckten. Die Kinder hatten großen Spaß, wie es platschte und schallte, wenn sie die Steine ins Wasser warfen. Von da an erkundeten die Waschbären immer wieder die Gegend am Blauen Auge und fühlten sich Stück für Stück heimisch.
Eines Nachts schnüffelten die Kleinen an einem Blätterhaufen und freuten sich, wie lustig es raschelte. Im nächsten Moment tapsten sie hinein. Ihre Tatzen blieben stecken und sie kamen nicht mehr heraus! Oh weh, was für ein Gejammer! Die Waschbäreneltern stürzten sofort zu ihren Kindern. Gemeinsam rüttelten und zogen sie an den Pfoten, doch es klappte nicht gleich. Erst nach dem dritten Anlauf rutschten sie heraus. Die Kleinen kamen mit ein paar Kratzern und einem großen Schreck davon. Aber da erschraken die Waschbären zum zweiten Mal in dieser Nacht: Sie waren plötzlich umringt von fremden Wesen, die sie grimmig ansahen. Die Unbekannten sprachen in scharfem Ton auf sie ein und erklärten, dass sie die Gegend nicht zerstören durften. Sie hatten Zweige abgebrochen und ihre Abfälle liegengelassen und damit Schaden angerichtet. Die Waschbären waren so verdattert, dass sie die Köpfe hängen ließen. Sie murmelten eine Entschuldigung, schnappten ihre Kinder und suchten schnell das Weite.
An ihrem Schlafplatz angekommen, ging es den Kinderpfoten schon wieder besser und sie besprachen die Erlebnisse der turbulenten Nacht. Die Fremden hatten ja recht. Vor lauter Begeisterung hatten sie nicht darauf geachtet, wo sie hintraten, und es war ihnen egal, wenn hier und da etwas abknickte. Die Reste und Krümel der Waldfrüchte hatten sie einfach liegenlassen, anstatt sie wegzuräumen, geschweige denn aufzuessen. Und ob sie sich überhaupt daran bedienen durften, hatten sie auch nicht erkundet. Und so plagte sie das schlechte Gewissen. Beim nächsten Treffen wollten sie sich auf jeden Fall entschuldigen!
Es dauerte einige Nächte, bis sie den Fremden an der Tongrube wieder begegneten. Zuerst bat jede Gruppe die andere um Verzeihung. Dann erfuhren die Waschbären, dass sie die Lieskauer Gnome getroffen hatten. Von den Erdgeistern hatten sie schon viel Gutes gehört. Den Ort namens „Blaues Auge“ hatten sie als Himmels-Observatorium angelegt. Hier konnte man durch die Spiegelung im Wasser die wundervollen Bilder am Himmel beobachten. Die umliegenden Hänge hatten sie liebevoll mit Sträuchern, Büschen und kleinen Obstbäumen bepflanzt und kümmerten sich darum.
Waschbären und Gnome besprachen sich und trafen friedliche Absprachen für die Zukunft. Denn die Gnome freuten sich über die Besucher und bald halfen sie ihnen sogar beim Umzug in die Nachbarschaft.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.