Tanz auf dem Salzsee

Es gab einmal einen klipperkalten Winter, in dem der Salzsee bei Langenbogen zufror. Eine dicke Eisschicht lag auf dem Wasser. Die Seebewohner, die Meerjungfrauen und Wassermänner, kuschelten sich eng aneinander und schliefen fest. 

Eines Tages kam eine Kindergruppe aus dem nahegelegenen Ort. Große und Kleine tummelten sich am Ufer und bewunderten das Eis. Übermütig warf ein Großer einen Stein auf die Eisfläche. Als dieser mit dumpfem Rumpeln weit hinaus schlitterte, schlenderte der Junge geradewegs hinterher. Seine Freunde am Ufer hielten den Atem an. Einige hatten anfangs noch gejubelt. Nun waren sie verstummt. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihren Bäuchen breit. Die Ermahnungen der Eltern hallten in ihren Ohren wider. Der Junge aber merkte davon nichts und spazierte munter weiter. In der Mitte des Sees drehte er sich um und winkte. In die Stille der Winterkälte hinein begann es zu knistern. Es knirschte und knackte gefährlich. Auf einmal ließ ein gewaltiger Knall die Eisfläche erzittern. Das Eis zerbarst in Schollen und begann zu wackeln. Jetzt konnte er nirgendwo mehr hin. Was für eine dumme Idee es doch war, aufs Eis zu laufen!

Die Meerjungfrauen und Wassermänner tief unten im See, hatten den ohrenbetäubenden Knall auch gehört. Jetzt erklang eine Kinderstimme, die schrill um Hilfe rief. Oh weh! Da wird doch niemand so leichtsinnig gewesen und aufs Eis gegangen sein? Sie sahen Schuhe und einen Schatten hindurch schimmern. Das musste das Kind sein. Gefährlich weit vom Ufer weg. Mit kräftigen Zügen schwammen sie zu den Eisschollen unter den Füßen. Sie wollten sie festhalten und abstützen, damit das Kind langsam zurücklaufen konnte. Doch wie sollten sie dem Menschenkind begreiflich machen, was sie vorhatten? Ein kleiner Wassermann zögerte nicht lange. Er schwamm neben die Füße und klopfte gegen das Eis. Dann wischte er die Scholle mit der Handfläche ab, so dass er das Kind auf der Oberfläche gut sehen konnte und klopfte erneut.

Der Junge glaubte seinen Augen kaum. Ein Kind in seinem Alter schaute ihn durch die Eisfläche an, winkte ihm zu und machte eigenartige Zeichen. Er brauchte eine Weile, bis er die Hinweise des Wasserjungen verstand. Dann schob er langsam den linken Fuß voran. Das Gesicht im Wasser nickte ihm zu und er wiederholte das gleiche mit dem rechten Fuß. Ganz langsam bewegte er sich und folgte den stummen Anweisungen. Unter seinen Füßen sah er Schatten durchs Wasser huschen. Aber das Gesicht blieb immer neben ihm und gab weiter seine Zeichen. Was der Junge als Schatten erahnte, waren die anderen Wassermenschen. Sie drückten mit aller Kraft von unten gegen die Eisschollen. Dadurch blieben sie ruhig im Wasser liegen und rutschten unter seinen Schritten nicht weg. 

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er an der Uferböschung ankam. Dort hatte sich inzwischen eine Menschentraube gesammelt: aufgeregte Kinder mit bunten Wintermützen, skeptische Feuerwehrleute in dunkelblauen Uniformen und Leute aus dem Dorf, die nichts verpassen wollten. Alle sahen staunend und ungläubig zu, wie der Junge über die wackeligen Eisschollen schritt. Vom Rande sah es aus, als balancierte er wie ein leichtfüßiger Tänzer. Die Zuschauer konnten ja nicht erkennen, welche außergewöhnliche Hilfe er hatte. Als er endlich wieder am Ufer stand, wurde er gedrückt, geschüttelt, geküsst und umarmt. Eine Woge der Erleichterung lag in der klaren Winterluft.

Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, wollte der Junge bei seinen eigenartigen Helfern danke sagen. Aber niemand war zu sehen. Hatte er sich das in all der Aufregung nur eingebildet? War seine Fantasie durchgegangen? Das würde ihm eh keiner glauben. 

Im Salzsee kehrte langsam wieder Ruhe ein. Nur der kleine Wasserjunge schaute noch lange zum Ufer. Er fragte sich, ob er das Menschenkind eines Tages wiedersehen würde. Vielleicht im Sommer. Dann könnten sie zusammen bis ans andere Ufer schwimmen. Und er könnte ihm das Tauchen beibringen. So ein neuer Freund aus der Menschenwelt wäre echt super. Dann fielen auch ihm die Augen zu und er sank in tiefen Winterschlaf.