Vor vielen Jahren, als die Salzataler Riesen noch neu in der Gegend waren, da unternahmen sie lange Spaziergänge, um ihre Heimat kennenzulernen und sich bei den Nachbarn vorzustellen. Am ersten Tag entdeckten sie den Fluss Salza, der sich munter vom Kernersee bis in die Saale schlängelte und dem Gebiet seinen Namen gab. Am darauffolgenden Tag weckte die Hochhalde bei Johannashall ihre Neugier und sie spielten rundherum Verstecken. Und später freundeten sie sich mit den Lieskauer Gnomen an, die an der alten Tongrube namens "Blaues Auge" lebten.
Nach einer langen Wanderung kreuz und quer durch die Wälder und über die Felder, legten sie gerade gemütlich die Füße hoch, da grollte ein tiefes Grummeln durch ihr Zuhause. Gleich darauf folgte ein zweites, das noch garstiger klang. Und schließlich ging das Geräusch in ein schauerliches Gluckern über. Mit großen Augen sahen sich die zwei an, bis der eine zaghaft flüsterte: "Das war mein Bauch." Und wirklich. Im Riesenbauch rumorte es, als hätte er tausend Gewitterwolken zum Frühstück gegessen. Dabei schmeckten ihm frische Eierkuchen mit Marmelade am allerbesten zum Morgenkakao.
Das Bauchgrummeln wollte einfach nicht aufhören. Später am Abend gestand er seinem Freund, dass er dazu auch noch Bauchschmerzen hatte und sich überhaupt nicht gut fühlte. Sie überlegten, woran das liegen könnte. Hatte ihm bei der langen Wanderung die Sonne zu sehr auf den Kopf geschienen und nun plagte ihn ein Sonnenstich? Oder war ihm eine Mahlzeit nicht bekommen? Sie hatten den ganzen Tag das Gleiche gegessen. Und ihren Durst hatten sie auch gemeinsam am Fluss gestillt. Daran konnte es wohl nicht liegen. Während die zwei versuchten, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, ging es unserem Riesen weiter schlechter. Er hatte sich hingelegt, weil dabei das Schwindelgefühl nachließ. Seine Hände waren kalt und schwitzig. Zwischendurch nickte er immer wieder ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Der gesunde Riese machte sich große Sorgen um seinen Freund. Er brachte ihm milden Tee und kochte Hühnersuppe. Er schüttelte ihm nach jeder Bewegung das Kopfkissen auf und deckte ihn sanft zu, wenn die Decke weggerutscht war. So gern hätte er mehr für ihn getan. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er saß neben dem Krankenlager und konnte nur hoffen. Da drehte der Kranke in einem Fiebertraum den Kopf zu ihm herüber und flüsterte: "Die Beeren. Vielleicht waren's die Beeren." Der Gesunde wusste damit nichts anzufangen. In Bruchstücken bekam er heraus, dass sein Freund unterwegs eine Handvoll fremder Beeren genascht hatte, weil sie so schön bunt und süß und saftig aussahen. Sehr gut geschmeckt hatten sie ihm nicht. Aber er hatte sie trotzdem heruntergeschluckt. Damit der andere nichts davon mitbekam. Schließlich kannten beide die Regel "Iss keine unbekannten Beeren, Früchte oder Pilze. Sie könnten ungesund oder sogar giftig sein." Die Neugier war diesmal so stark, dass er die Regel kurz vergessen hatte und eilig ein paar Früchte in seinem großen Mund verschwanden.
Jetzt war dem gesunden Riesen alles klar. Sein Freund hatte sich an den fremden Beeren vergiftet und nun kämpfte sein Körper gegen die Wirkung. Wenn er ihm helfen wollte, müsste er schnell herausfinden, von welcher Pflanze er genascht hatte und welches Gift darin steckte. Damit könnte er jemanden nach einem Gegenmittel fragen. Es war mühsam, aus seinem geschwächten Freund herauszubekommen, wo er die fremden Früchte gefunden hatte. Erst schlief er so fest, dass es aussah, als wolle er gar nicht wieder aufwachen. Er erinnerte sich nur lückenhaft und schließlich fehlten ihm die passenden Worte, um den Weg zu beschreiben.
Doch mit viel Geduld und gutem Zureden erfuhr der gesunde Riese, was er wissen musste. Eine benachbarte Wildschweinfamilie erklärte sich schnell bereit, auf den Kranken aufzupassen, sodass sein Freund Hilfe besorgen konnte. Dafür ging er zuerst zu den gefährlichen Beeren zurück und nahm einige von ihnen mit. Nun lief er mit Riesenschritten durchs Salzatal. Es war inzwischen tiefdunkle Nacht. Der Mond hatte sich hinter dicken Wolken versteckt. Nur die Lichter vereinzelter Menschensiedlungen tupften helle Punkte ins schwarze Dickicht. Einmal stolperte er über einen umgestürzten Baum, der vom letzten Unwetter quer auf dem Weg lag. Dann patschte er mit seinem Fuß in eine Seepfütze, die wie ein graublaues Tuch plötzlich vor ihm aufgetaucht war. Und ein anderes Mal stand schlagartig ein Kirchturm vor ihm, sodass er beinahe dagegen gelaufen wäre.
In der ersten Seitenstraße wohnte der Mensch, den er suchte. Der schaute schläfrig aus dem Fenster und war beim Anblick des besorgten Riesen schnell putzmunter. Als er die Giftbeeren sah, wusste er gleich, was zu tun war und drückte seinem Besucher eine Flasche mit einer klaren braunen Flüssigkeit in die Hand. Das würde reichen. Der Patient müsse es nur in einem Zug austrinken.
Das tat unser kranker Riese kurze Zeit später. Dann fiel er in einen langen, tiefen Schlummer. Als er nach vielen Stunden aufwachte, fühlte er sich wie neu geboren und ein großes Stück klüger. Er würde niemals wieder eine unbekannte Beere, Frucht oder Pilzsorte essen, ohne sich vorher schlauzumachen, worum es sich handelte.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.