Der Zauberwürfel

Vor einiger Zeit erzählte ich die Geschichte von den Salzataler Riesen. Die zwei trafen sich unter einem Baum bei Krimpe und spielten Würfeln mit sechs Hinkelsteinen. Einmal setzte sich ein Riese mitten in einen Ameisenhaufen und erschrak so sehr, dass er die Würfel in hohem Bogen  wegwarf. Der Größte flog fast tausend Meter weit und blieb erst auf einem Feldweg nahe der Ortschaft Räther liegen. Die Riesen flitzten indes zu ihren Verwandten ins Riesengebirge. Denn der wunde Po schmerzte so sehr, dass nur die Medizin von Onkel Rübezahl Linderung versprach. Ihre Würfelsteine ließen sie achtlos zurück.

Die Menschen aus der Umgebung von Räther waren sehr ärgerlich über den großen Stein. Er lag mitten auf einem Feldweg, den täglich viele Fuhrwerke und Ochsengespanne benutzten. Ihnen war die Durchfahrt versperrt und sie mussten weite Umwege in Kauf nehmen.

Da trafen sich die Anwohner und versuchten ihn aus dem Weg zu räumen. Sie schoben und zogen mit vereinten Kräften. Aber nichts half. Da kamen sie auf die Idee, es mit dem Ochsenkarren zu versuchen. Dazu brauchten sie aber Haken und Ösen im Stein, um das Geschirr zu befestigen. Sie versuchten Nägel hineinzuschlagen. Aber viele brachen einfach ab. Andere waren gleich beim ersten Hammerschlag krumm. Als endlich genug Bolzen im Stein steckten, zurrten sie Lederriemen daran fest und spannten ihre stärksten Ochsen ein. Die Tiere zogen an und der Stein ruckelte zuerst ein wenig. Er blieb aber unverändert liegen. Nun trieben sie das Gespann mit lauten Rufen an, so dass die kräftigen Tiere sich mit aller Wucht in die Riemen stemmten. Die Tiere zogen und die Menschen schoben. Und der Stein rutschte Millimeter für Millimeter beiseite. Am Ende eines langen mühsamen Tages war der Feldweg wieder frei. Erschöpft, aber glücklich gingen die Anwohner nach Hause und waren froh, keine Umwege mehr fahren zu müssen.

Nach einigen Wochen war die harte Arbeit schon beinahe vergessen. Doch als nach einer tosenden Gewitternacht mit heftigen Sturmböen das erste Fuhrwerk den Feldweg entlangfuhr, staunten sie nicht schlecht! Der Stein lag wieder an seinem alten Platz! Als wäre nichts passiert, versperrte er erneut den Weg!

Wie konnte das sein? Kein Mensch konnte den Stein bewegen, wie sollte er also wieder dorthin gekommen sein? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu! Hier war gewiss Zauberei am Werk, dachten sich die Menschen und machten ehrfürchtig einen Bogen um den rätselhaften Ort. Und etwas magisch war die Sache schon. Denn in der Gewitternacht waren unzählige Blitze in den Stein eingeschlagen, so dass er wie eine gleißende Fackel erglühte. Viele kleine Splitter platzten dabei von ihm ab und kullerten über den Feldweg. Dadurch verloren sie ihre spitzen Kanten und wurden zu einer Schar bunter Kieselsteine, die sich weit verstreute. Vom großen Würfelstein blieb gerade mal eine Hälfte übrig, die durch die Wucht der Erschütterungen in die Mitte des Feldweges zurückrollte. Er war immer noch viel zu schwer, um von einem Menschen allein bewegt zu werden. Aber diesmal schafften sie es ohne die Ochsen und schoben ihn an den Feldrand. 

Dort steht er seitdem still und friedlich und blickt übers Feld, wie ein Schäfer, der aufmerksam über seine Schafherde wacht. Vielleicht haben die Menschen ihm deshalb den Spitznamen Schäferstein gegeben. Auf jeden Fall hat er sich nie wieder bewegt. Einzig die verrosteten krummen Nägel erinnern noch an die Geschichte vom verzauberten Würfelstein der Salzataler Riesen.