Die Riesen im Salzatal waren dicke Freunde. Stets streiften sie zu zweit durchs Land und erlebten gemeinsame Abenteuer. Das Schnarchen des einen weckte den anderen und abends summten sie sich gegenseitig in den Schlaf.
Eines Morgens wachten sie auf und etwas stimmte nicht. Der eine sagte: „Du hast zu leise geschnarcht. Ich bin nicht wachgeworden.“ Der andere gab zurück: „Du hast zu laut gesummt. Ich konnte nicht einschlafen.“ Sie blickten einander grummelig an und drehten sich die Rücken zu. Anstatt wie sonst zusammen zu frühstücken, stopften sie hastig ihren Proviant in die Taschen und drängten aus der gemeinsamen Behausung. Beinahe hätten sie dabei die Tür aus den Angeln gerissen. Denn während jeder der Erste sein wollte, verklemmten sich ihre breiten Schultern im Türrahmen und sie steckten fest. Mit einem Ruck befreiten sie sich aus der misslichen Lage und beschimpften einander. Der andere sei schuld. Er hätte warten müssen. Immer drängelt er sich vor. Und so zankten sie den ganzen Tag über die kleinsten Kleinigkeiten, ohne zu wissen, warum sie wütend aufeinander waren.
Auf der Suche nach neuen Vorräten kamen sie nördlich von Langenbogen entlang. Hier hatten sie vor Monaten einen Schatz gefunden. Mit einem mannsgroßen Hammer hatten sie tiefe Löcher ins Erdreich geschlagen. Nach getaner Arbeit hatten sie die wieder aufgefüllt und alle Spuren beseitigt. Aber im Lauf der Zeit verfestigte sich die Erde so sehr, dass eine Schluchtenlandschaft entstanden war.
Vor lauter Streiterei waren sie an diesem Tag unachtsam. Sie schubsten sich hin und her, so dass der eine ins Taumeln geriet. Der andere warf ihm ein garstiges Wort hinterher, da war es schon passiert: Sein Kumpel stolperte über den Rand der Hammerschlucht und fiel der Länge nach hinein. Jetzt ging das Gezeter erst richtig los! Schimpfwörter flogen umher, dass den Spatzen im Gebüsch die Federn zitterten. Vom Beben der kräftigen Stimmen rumorte der Boden. Die Erde geriet so sehr ins Wanken, dass sich ganze Felsblöcke vom Rand der Schlucht lösten. Erst jetzt bemerkte der gestürzte Riese, dass mit seinem Bein etwas nicht stimmte. Es steckte mitten in der Felsspalte fest und ließ sich nicht mehr bewegen. Er zog mit Leibeskräften, aber es ruckte keinen Millimeter. Hilflos schaute er seinen Freund an. Der raufte sich die Haare und suchte fieberhaft nach einer Lösung. Wenn er selbst zu nah an die Schlucht heranging, würde er auch hineinfallen. Aber er konnte seinen Kumpel nicht zurücklassen. Da griff er nach einem langen kräftigen Ast und reichte ihn dem Unglücklichen, um ihn herauszuziehen. Doch der brach schon beim ersten Versuch entzwei. Dann zog er sein T-Shirt aus, riss es in lange Streifen, flocht daraus ein dickes Seil und warf es ihm zu. Das hielt schon besser. Nur leider reichte die Kraft eines Riesen nicht aus, um den anderen aus dem Erdloch zu ziehen. Ihre einzige Chance bestand darin, Hilfe zu holen. „Geh zu den Menschen!“ ,rief der Feststeckende seinem Freund zu, „Die sind Viele. Zusammen schafft ihr das!“
Der Riese musste den Anwohnern nicht viel erklären. Die Leute liefen in Scharen herbei und brachten ihre Seile mit. Die banden sie aneinander und warfen sie dem Unglücklichen zu. Dann verteilten sie sich an den Seilenden und es ging los. Zu hunderten zogen und zogen sie. „Hau ruck! Hau ruck!“, schallte es über die Felder. Und als die Arme begannen schlapp zu werden, da tat sich was: Der Riese rückte Stück für Stück aus der Erdschlucht heraus, bis er schließlich die Hand seines Freundes zu fassen bekam. Während die Menschen zur Sicherheit weiter an den Seilen zogen, hielt der eine den anderen am Gürtelbund fest und wuchtete ihn über den Rand.
Der Schwung brachte beide zu Fall, so dass sie erschöpft nebeneinanderlagen und vor Anstrengung schnauften. Um sie herum stand eine jubelnde Menschentraube, die klatschte und johlte. Unsere zwei Riesen stimmten in den Freudentaumel ein und nahmen sich vor, nie wieder zu streiten. Erst recht nicht, ohne zu wissen warum.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.