Der Nebel lag wie ein dicker Schleier auf dem Saaletal, so dass vom Krähenberg nur eine kleine Erdkuppe herausschaute. Unter dem grauen Gewand führte die Saale weit mehr Wasser als in einem gewöhnlichen Herbst. In den Niederungen war sie bereits über die Ufer getreten. Die anfänglichen Pfützen hatten sich zu einer Seenlandschaft verbunden und tränkten den durstigen Boden.
Am Fuße des Krähenbergs stand ein alter Weidenbaum. Seine Zweige tauchten wie lange Strohhalme in die Pfützen. Die heißen Sommer der vergangenen Jahre hatten ihm zugesetzt, so dass er nun dankbar das kostbare Nass aufsog. Zugleich verbarg er ein Geheimnis, das den Anwohnern der Nachbardörfer schlaflose Nächte bereitete.
Der letzte Herbststurm hatte so heftig gewütet, dass die Dächer undicht und die Keller nass waren. Zugleich hatte er ein unbekanntes Wesen in die Gegend gespült, von dem man sich unheimliche Geschichten erzählte. Die Menschen trauten sich seitdem nicht mehr in die Nähe des Weidenbaums und den Kindern wurde es strengstens verboten. Nur die schwarzen Vögel vom Krähenberg wussten, dass sich eine junge Saalenixe mit letzter Kraft vor dem tosenden Sturm in die Arme der Weide gerettet hatte. Zu Beginn drangen ihre Hilferufe unter dem Weidenvorhang durch den Nebel, über die Felder und den Berg hinauf. Doch inzwischen war sie so entkräftet, dass nur noch aus der Nähe ein leises Jammern zu hören war. Die Krähen hatten versucht, zu helfen. Ganz dicht hatten sie sie umringt, wollten sie mit den kräftigen Schnäbeln anheben oder zurück zum Flussbett schieben. Aber es gelang ihnen nicht. Nur die Menschen waren stark genug, um dem verirrten Wesen zu helfen. Doch die versteckten sich hinter ihren Ängsten und Schauergeschichten.
Eines Tages trieb die Neugier eine Kindergruppe auf dem Heimweg von der Schule heimlich aus dem Dorf und den Krähenberg hinab. Sie wollten das Wesen sehen, von dem die Erwachsenen erzählten, dass es so gefährlich und magisch zugleich sei. Die Kinder schlichen durch den Nebel auf den alten Weidenbaum zu und sahen ein kleines Häufchen, das zusammengerollt unter den Zweigen lag. Je näher sie kamen, umso mehr erschien ihnen die Gestalt wie ein schlafendes Kind. Langsam traten sie vor und mit leisen Stimmen fragten sie, wer sich da hingelegt habe.
Das Wesen antwortete in kaum hörbarem Flüsterton, dass es halb Mensch, halb Nixe sei. Es würde zwar im Fluss, bei den anderen Nixen leben, aber es hätte nicht die magischen Kräfte der Wasserwesen und könnte sich daher nicht selbst helfen.
Warum die Erwachsenen Angst vor dem Nixenkind hätten, wollten die Menschenkinder wissen.
Da antwortete es, dass die Menschen nicht genau hinsähen und nur von Weitem etwas Unbekanntes erahnten, vor dem sie sich fürchteten. Außer den Krähen war niemand gekommen und hatte sich selbst ein Bild gemacht, um die wahre Geschichte zu erfahren.
Auf die Frage, wie das Nixenkind unter den Weidenbaum gekommen sei, antwortete es, dass es zu weit rausgeschwommen und in eine starke Strömung geraten sei. Da wurde es davon gespült. Als dann der Herbststurm das Hochwasser brachte, wirbelte er es wie ein Stöckchen umher und warf es mit voller Wucht aufs Land. Und nun lag es hier und war dem Ende nahe.
Die Kinder wollten sogleich helfen. Doch aus Sorge, ihm an seinen zarten schlaffen Gliedern weh zu tun, besprachen sie, am Abend wiederzukommen und eine Schubkarre mitzubringen. Das Nixenkind drängte, sie mögen sich beeilen. Lange hielte es nicht mehr aus. Da gaben die Kinder aus ihren Brotdosen die Reste ihrer Schulschnitten, Brötchen, Äpfel, Gurken und kleinen Leckereien und brachten frisches Wasser vom Fluss. Gleich ging es dem neuen Freund besser.
Kurz nach Anbruch der Dämmerung rumpelte eine Schubkarre über das Pflaster der Siedlung und der Kindertrupp zog im diesigen Mondlicht erneut zum Krähenberg hinab. Unter der Weide hoben sie das Nixenkind sanft in die Schubkarre. Jemand hatte sie mit einer bequemen Decke ausgepolstert. Dann schoben sie es gemeinsam zum Ufer und halfen behutsam beim Aussteigen. Das Nixenkind bedankte sich bei den Menschenkindern und versprach, seine neuen Freunde niemals zu vergessen. Von da an hatten die Kinder keine Angst mehr vor Nixen. Stattdessen fragten sie genau nach und sahen gründlich hin, wenn ihnen jemand eine Geschichte erzählte.
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