Im Salzsee bei Langenbogen wohnte einst eine Familie aus Wassermännern und Meerjungfrauen. Sie hatten ihren Vater von der Küste ins Salzatal begleitet. In dem abseits gelegenen See fanden sie in alten überfluteten Gartenlauben ein schönes Zuhause. Denn in dem ehemaligen Burgteich blieben sie unentdeckt. Und das lebhaft vorbeisprudelnde Flüsschen Salza, erzählte ihnen von allem, was in der weiten Wasserwelt geschah.
Eines Tages versammelte sich ein Schwarm kleiner Fische dicht gedrängt vor der Behausung der Wasserwesen. Sie erzählten von einem Unbekannten im See, der sie in Angst und Schrecken versetzte. Zuerst waren ihnen viele Schlammwolken aufgefallen. Dann stellten sie fest, dass der Seegrund an manchen Stellen aufgewühlt war. Und schließlich verschwanden immer wieder Fische aus ihrer Gruppe und kamen nicht zurück. Vor allem in der späten Abenddämmerung fühlten sie sich von einem Schatten verfolgt. Es entstand das Gerücht, von einem Monster im See. Das machte den kleinen Fischen große Angst. Und nun baten sie die Wassermänner und Meerjungfrauen um Hilfe und Schutz.
Ein Monster in ihrem Heimatsee? Das wollten die Wasserwesen nicht glauben. Sie hätten doch etwas bemerkt? Doch während der ganzen Erzählung hatten den schuppigen Nachbarn die Flossen gezittert. Da beschlossen die Wassermänner und Meerjungfrauen zu helfen. Sie ließen sich die Begegnungen mit dem Monster ausführlich beschreiben und planten, es in eine Falle zu locken. Dann wollten sie genauer sehen, worum es sich handelte. Aus Steinen, Ästen und Zweigen bauten sie Hindernisse auf, die wie ein Parcours durchs Wasser verliefen. Wer sich hinein begab, landete geradewegs in einem der alten Gartenhäuser und kam nur im Rückwärtsgang wieder heraus. Anschließend legten sie sich auf die Lauer und warteten auf das Monster.
Drei Nächte verliefen vergebens, bis ein kleiner Fisch mutig aus dem Schwarm herausschwamm und sagte: „Ich locke das Monster an! Dann erwischen wir es bestimmt!“ Allen Mahnungen zum Trotz machte sich der Knirps zum Köder und verschwand in einer schlammigen Wasserwolke. Da blieb den Wassermännern und Meerjungfrauen nichts anderes übrig, als wieder zu beobachten und abzuwarten. Nur gut, dass das Wasser die Geräusche dämpfte. Sonst hätte ihr lautes Herzklopfen den Fremden gewiss verjagt. Aber in dieser Nacht sollten sie Glück haben.
Zuerst schwamm der kleine mutige Fisch vorbei. Er hielt kurz inne und versicherte sich, dass der Schatten ihm folgte. Dann trieb er mit sanften Flossenschlägen voran. Kurz bevor er die hintere Hauswand erreichte, duckte er sich, machte eine scharfe Linkskurve und schwamm wie ein Pfeil den Hindernisparcours zurück. Das Monster bemerkte zu spät, dass seine Beute verschwunden war. Mit einem kräftigen Rums stieß es gegen die aus dem Nichts vor ihm aufgetauchte Hauswand. Das war das Zeichen für die Wasserwesen. Noch bevor das Monster wieder zur Besinnung kam, hatten sie alte Fischernetze vor den Eingang gespannt und ihm den Weg abgeschnitten. In wildem Zickzack schwamm der Schatten zwischen Hauswänden und Netzen umher. Lange dauerte es, bis er zur Ruhe kam. Dann zog er sich in eine dunkle Ecke zurück und rollte sich ein.
Die Wassermänner und Meerjungfrauen warteten, bis das aufgewirbelte Seewasser still wurde, bevor sie sich den Maschen näherten, die sie von dem fremden Wesen trennten. Ein langer glänzender Körper, ähnlich einem Ast, lag da zusammengerollt vor ihnen. Zwei winzige Flossen zappelten hin und her und dunkle kleine Augen starrten sie an. „Um Himmelswillen, das ist ja ein Aal!“, rief einer der Wassermänner und die übrigen stimmten ihm kopfnickend zu. Sie kannten die schlanken Fische, denn im vorbeifließenden Strom waren sie ihnen schon begegnet. Aale waren auf Wanderschaft und schwammen häufiger vorbei. Manche bogen auch für eine kurze Ruhepause in den See ab. Aber noch nie war einer geblieben oder hatte sogar übernachtet.
Der Gefangene zitterte inzwischen am ganzen Körper. Je mehr Gestalten in ansahen, umso kleiner rollte er sich zusammen. Da fragten ihn die Wasserwesen, was er im Salzsee wolle. Mit banger Stimme erzählte der Aal eine lange Geschichte, die seine Zuhörer zu tiefem Mitleid rührte. Die Falle tat ihnen unendlich leid und sie entschuldigten sich von Herzen dafür. Während die einen rasch die Fangnetze entfernten, erklärten die anderen den kleinen Fischen, dass es kein Monster im See gab, sondern nur einen verirrten Besucher. Gegen seinen mächtigen Hunger gaben sie ihm von ihren Vorräten, sodass er keines der Fischlein mehr fangen musste.
Bald hatte sich der Aal von seinem Schreck erholt und war wieder kräftig genug um weiter zuschwimmen. Da begleiteten ihn die Wassermänner und Meerjungfrauen zurück zum Fluss und verabschiedeten ihn, wie einen alten Bekannten.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.