Unter den Lieskauer Gnomen lebten die zwei Gnom-Kinder Bertram und Luise. Eines Tages kamen sie am alten Trafoturm vorbei. Seit der nicht mehr den Strom, aus dem dicken Überlandkabel in die einzelnen Hausanschlüsse verteilte, war er die Wohnstätte unzähliger Vögel. Die fanden hier drin Schutz vor Feinden und schlechtem Wetter.
An diesem Tag kam den Gnomen am Turm etwas komisch vor. Sie blieben stehen, konnten aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Absolut nichts. Aber genau das war es! Die Stille war merkwürdig. Sonst sangen an dieser Stelle die Vögel um die Wette. Jetzt war es so leise, dass man den Wind belauschen konnte. Was war hier los?
Durch einen Spalt an der Metalltür spähten Bertram und Luise in den Trafoturm und staunten nicht schlecht. Es war picobello sauber darin! Feinsäuberlich hingen die Vogelnester nebeneinander. In keinem war ein Krümel Schmutz oder ein vergessenes Federchen zu sehen. Der Boden war blitzeblank und die Wände strahlten wie neu gestrichen. Das war doch nicht normal, oder? Am nächsten Tag war das Vogelgezwitscher immer noch nicht zurück. Die Gnome beschlossen, sich auf die Lauer zu legen.
Mit einem Beutel Proviant versteckten sich Bertram und Luise auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Lange Zeit passierte nichts. Nur ein paar Katzen spazierten vorbei. Dann kam eine dunkle Gestalt näher, öffnete die Metalltür und huschte in den Turm! Bertram sprang auf und flitzte über die Straße. Luise hatte Mühe, ihm zu folgen.
Die Tür war nicht ganz geschlossen. Drinnen erspähten sie die Gestalt, halbdurchsichtig wie ein dünnes ausgewaschenes Bettlaken. Sie staubte die Vogelnester ab und hängte sie der Größe nach zurück in die Ziegelsteinfugen. Anschließend holte sie einen Reisigbesen und fegte den Boden. Gegenüber vom Eingang blieb sie wie versteinert stehen und zitterte heftig. Jetzt war Luise ganz mutig und sprach die Gestalt mit leiser Stimme an. Die Gnome mussten hoch und heilig versichern, keine Menschen zu sein. Dann stellte sich der Schatten als Hausgeist vor, der seit einigen Tagen mit seiner Familie im Trafoturm Unterschlupf gefunden hatte.
Vorher wohnten sie bei den Menschen in Kellern, in Garagen oder auf Dachböden. Aber von dort wurden sie immer wieder verjagt. Nirgendwo waren sie willkommen. Auf ihrer Flucht kamen sie im Turm unter und blieben eine Weile. Ihre Lieblingsbeschäftigung war Putzen und Aufräumen. Und anders als große Geister waren sie tagsüber wach und brauchten nachts, genau wie die Menschen und Gnome, ihren Schlaf. Jetzt erklärte sich auch, warum die Vögel verschwunden waren: Das laute Schnarchen der Geister hatte sie vertrieben. Für immer konnten sie also nicht im Turm bleiben!
Oh je, was für ein Schlamassel! Die Hausgeister brauchten dringend ein sicheres Zuhause, wo sie nachts in Ruhe schlafen konnten, aber mit ihrem Schnarchen niemanden störten. Dann würden die Vögel gewiss auch zurückkommen. Die zwei Gnome kannten sich gut aus in Lieskau und Umgebung. Es dauerte nicht lange, da hatten sie eine tolle Idee: Das Holz-Spielhaus vom Kindergarten! Tagsüber spielen dort die Kinder und abends, wenn sie zu Hause sind, steht es leer. Da gibt es bestimmt auch etwas zum Aufräumen für die Geisterfreunde.
Die Gnome malten den Kindergartenkindern der großen Gruppe eine Nachricht und fragten, ob die Geister bei ihnen einziehen durften. Und nur einen Tag später war schon die Antwort da: Die Kinder hatten keine Einwände und freuten sich auf ihre Gäste! Fix zogen die Hausgeister im Kindergarten-Spielhaus ein. Und seitdem räumen sie jeden Abend fleißig mit auf: Die Schaufeln, Töpfe und Stöcker, die die Kinder zufällig liegengelassen haben, bringen sie in die Kisten und fegen gründlich allen Sand aus dem Haus.
Beim Faschingsfest, beim Sankt-Martins-Umzug und bei den Lesenächten im Kindergarten verkleiden sich die drei netten Hausgeister. Dann mischen sie sich unter die Kinder und feiern unbemerkt mit. So ist durch die Hilfe der Gnome eine Freundschaft entstanden, die gewiss noch lange andauern wird.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.