Auf der alten Burg hoch über der Saale bei Kloschwitz nahte wieder die Halloween-Zeit. Auf den Burgzinnen saß ein kleiner Kürbis und beobachtete das geschäftige Treiben. Im letzten Jahr wäre er beinahe zur Laterne verarbeitet worden. Aber dann war er mutig vor dem Schnitzmesser geflüchtet und dabei fast in der Saale ertrunken. Im letzten Augenblick rettete ihn ein Kind, das sich von da an um ihn kümmerte. Mit einem Kohlestück malte es ihm ein freundliches Gesicht auf und seitdem saß er auf der Burgmauer und blickte übers Land.
Seit ein paar Tagen rumorte es auf der Burg. Die Erntezeit ging zu Ende und die Bewohner bereiteten das Erntedankfest vor. Sie schnitzten Kürbisse, stellten Kerzen, Fackeln und Laternen auf und lagerten die Gaben der Natur für den Winter ein. In all dem Trubel fiel dem kleinen Kürbis auf, dass von den zahlreichen Lichtern jeden Tag eins weniger zu sehen war. Sie erloschen nicht, wie man es vermuten würde. Nein, sie verschwanden einfach. Die Menschen stellten zwar hier und da ein neues Licht auf, aber je näher die Halloween-Nacht rückte, umso weniger leuchtete es auf dem Burghof.
Der Kürbis und sein Freund rätselten nach dem Grund dafür. Doch sie hatten beim besten Willen keine passende Idee. Ihre Neugier war inzwischen aber so groß, dass sie sich einen abenteuerlichen Plan überlegten. In der nächsten Nacht wollten sie sich auf die Lauer legen und die Lichter beobachten. Sobald eines verschwand, wollten sie der Spur folgen.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit fiel ihnen schon etwas auf. Eine Fackel, nahe am Burgtor, war plötzlich, ohne einen Windzug, erloschen. Wenig später entdeckten sie einen Schatten, der sich an ihr zu schaffen machte. Die Gestalt schlich am Rande der Burgmauer entlang und entfernte sich eilig. Der Kürbis und sein Freund mussten sich beeilen, um hinterherzukommen. Es schien, als ob der Schatten wie der Wind durch die Nacht flog, ohne auf den Weg achten zu müssen. Unsere zwei Verfolger gaben sich große Mühe, unbemerkt zu bleiben, aber im Dunkeln stolperten sie über Wurzeln und Steine und brachen sich beinahe die Beine. Dann war die Gestalt plötzlich verschwunden! Die zwei standen stocksteif und lauschten. Zuerst hörten sie in der Stille der Nacht nur das Käuzchen rufen. Aber dann drangen Stimmen und leise Musik an ihr Ohr. Und als der Mond sich hinter eine dicke Wolke zurückzog, erkannten sie in einiger Entfernung eine von Kerzenschein erhellte Lichtung. Auf Zehenspitzen schlichen sie sich heran, bis sie oberhalb der Himmelsleiter, einer in den Berg geschlagenen Treppe, ankamen. Hinter dicken Brombeerbüschen versteckten sie sich rasch. Und was sie da sahen, verschlug ihnen den Atem! Im Schein der gestohlenen Kerzen und Fackeln schwebten unzählige Geister und Gespenster über die Wiese. Manche standen in Grüppchen beieinander, plauderten und lachten. Die nächsten tanzten ausgelassen auf der Lichtung. Andere steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Und wieder andere spielten auf selbstgebauten Instrumenten lustige Musik. Sie hielten Becher mit einem süßlich duftenden Getränk in der Hand und verteilten knusprige Kekse. Hier fand ein Geisterfest statt! Dafür hatten sie die Lichter der Menschen gebraucht!
In ihrem Versteck wurden unsere Verfolger inzwischen von den Brombeersträuchern gepikst. Und die Beine begannen zu schmerzen. Die zwei wollten sich vorsichtig wieder zurückschleichen. Doch da traten sie auf einen morschen Zweig, der lautstark unter ihren Füßen zerbrach. Knack! Sofort waren sie umringt von der geisterhaften Partygesellschaft! Mit schlotternden Knien und zittriger Stimme fragte das Kind: „Wer seid ihr? Und warum habt ihr unsere Lichter gestohlen?“
Die Geister und Gespenster tuschelten miteinander, dann trat eines hervor und sagte: „Wir üben für die Halloween-Nacht! Aber wir fürchten uns vor den Mondlichtschatten. Da haben wir uns ein paar Lichter von euch ausgeliehen. Wir bringen sie auch bestimmt wieder zurück!“
Dann luden sie den kleinen Kürbis und das Kind zur Party ein und boten ihnen leckere Gruselkekse und heiße Schreckschokolade an. Die zwei freundeten sich schnell mit ihren Gastgebern an und blieben bis zum Morgengrauen. In der Halloween-Nacht standen dann alle Kerzen, Fackeln und Laternen wieder ordentlich an ihren Plätzen. Und Menschen, Geister und Gespenster feierten gemeinsam ein schaurig-schönes Fest.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.