Vor einiger Zeit hatten die Lieskauer Gnome in einer alten Tongrube ihr Himmels-Observatorium angelegt. Sie bepflanzten die umliegenden Hänge mit Sträuchern, Büschen und kleinen Obstbäumen und kümmerten sich darum. Jeden Tag schickten sie zwei Gnome aus, die nach dem rechten sahen.
Die zwei, die an diesem Morgen eintrafen, trauten ihren Augen nicht: Viele zarte Zweige waren umgeknickt, Stöcke lagen wild herum und überall fand man angeknabberte Walnüsse und Reste von Eicheln und Kastanien. Am Feldrand hatten die Gnome sie als Geschenk für die Rehe und Wildschweine abgelegt. Doch kein Reh oder Wildschwein würde damit auf die Bergkuppe klettern und dort Krümelreste hinterlassen. Fassungslos liefen die Gnome einmal um die Tongrube herum. Dabei entdeckten sie noch mehr: Kleine Tatzenabdrücke im feuchten Erdboden und an einem Strauch hing ein graubraunes Fellbüschel. Keine Frage, hier waren Fremde langgestreift, hatten Schaden angerichtet, gestohlen und nicht mal ihren Müll weggeräumt!
Die Gnom-Gemeinschaft war zutiefst verärgert! Sie freuten sich über jeden Besucher und zeigten gern ihre schönen Plätze. Aber man muss doch ordentlich mit den Dingen umgehen.
Grimmig räumten sie alles auf und versorgten die geschädigten Pflanzen. Als sie aber am nächsten Morgen wiederkamen, fanden sie das gleiche Chaos wieder vor! So eine Frechheit! Da waren die Fremden zurückgekommen und hatten erneut gewütet! Und das wiederholte sich in den darauffolgenden Nächten. Die Lieskauer Gnome sorgten abermals für Ordnung. Dann setzten sie sich zusammen und berieten, was zu tun war. Denn so konnte es nicht weitergehen.
Für den kommenden Abend bereiteten sie sich vor. Jeder suchte sich einen versteckten Platz mit guter Aussicht und gemeinsam betrachteten sie die Spiegelung im Wasser. Der gelbe Mondball im blauschwarzen See war so schön anzusehen, dass sie beinahe vergaßen, warum sie hier waren. Aber ein Rascheln im Gebüsch und ein Platschen am Ufer schreckten sie auf. Vier Schatten liefen unbekümmert durch die Gegend. Graubraune Felltiere, etwas kräftiger als Katzen und mit einem schwarzgestreiften Schwanz. Mit kleinen Pfoten hoben sie alles auf und untersuchten es. Sie knickten Zweige ab und warfen Steine achtlos ins Wasser. Bei genauem Hinsehen erkannte man schwarze Masken in den Tiergesichtern. Wie garstige Ganoven sahen die aus!
In der Morgendämmerung verschwanden die Fremden. Die Gnome waren müde und verwirrt. Sie steckten die Köpfe zusammen und überlegten: Mussten sie sich vor den Maskierten fürchten, oder waren es einfach Rüpel, denen man solche Frechheiten nicht durchgehen lassen durfte? Sie beschlossen, die Besucher mit einer kleinen Falle zu erschrecken und anschließend zur Rede zu stellen. Auf den Wegen verdeckten sie zwei tiefere Wurzellöcher mit Herbstlaub, so dass man im Dunkeln ins Stolpern kommen und Stehenbleiben musste. Daraufhin wollten die Gnome heraustreten und ihrem Ärger Luft machen.
Der Plan war gut vorbereitet und hätte gewiss auch sein Ziel erreicht. Wären nicht ausgerechnet die zwei kleinsten Besucher in die Wurzellöcher gestolpert. Ihre Tatzen verklemmten sich unter den Wurzelarmen und sie steckten fest. Die Großen eilten flink herbei und befreiten ihre Jungen, die sich zu allem Übel dabei auch noch leicht verletzt hatten. In diesem Augenblick sprangen die Gnome aus ihren Verstecken. Wenn die schwarzen Masken nicht angewachsen wären, hätten die Felltiere sie gewiss vor Schreck verloren! Mit scharfen Worten sprachen die Gnome auf sie ein und erklärten, dass sie die Gegend nicht zerstören dürfen. Es ist nicht in Ordnung, Schaden anzurichten und den Müll herumliegen zu lassen. Von diesem Überfall waren die Besucher so eingeschüchtert, dass sie eilig eine Entschuldigung murmelten und mit eingezogenen Köpfen und Schwänzen davonliefen.
Wirklich zufrieden waren die Gnome danach aber nicht. Sie wollten doch niemanden verletzen! Und so plagte sie das schlechte Gewissen und sie trotteten ebenfalls mit hängenden Köpfen nach Hause. Beim nächsten Treffen wollten sie sich auf jeden Fall entschuldigen!
Es dauerte einige Nächte, bis sich alle wieder am Blauen Auge begegneten. Und nachdem man einander um Verzeihung gebeten hatte, stellten sich die Besucher als Waschbären vor. Die schwarze Maske gehört zu ihrer Fellfarbe und ist in jedem Gesicht einzigartig. Den Tatzen der Waschbärenkinder ging es inzwischen wieder gut. Und die Eltern erklärten, warum sie in letzter Zeit häufiger vorbeikamen.
Ruhig und vernünftig sprachen Gnome und Waschbären miteinander. Dann trafen sie Absprachen, damit in Zukunft alle friedlich zurechtkamen. Denn die Waschbären waren von da an reinliche und gerngesehene Besucher. Und einige Zeit später zogen sie sogar ans Blaue Auge nach Lieskau und wurden zu Nachbarn.
© Tina Kaltofen. Alle Rechte vorbehalten.