Falsch abgebogen

Es war ein Tag wie jeder andere als sich eine Gruppe junger Aale in der Saale begegnete. Sie hatten bereits einen langen Weg hinter sich. Nach ihrem Schlüpfen im Norden des großen Ozeans, der Atlantik genannt wird, hatte sie die Meeresströmung viele tausend Kilometer an die Küsten Europas getrieben. Dann ging ihre Reise weiter bis in die kleineren Flüsse und Seen. 

Einer der Aale hieß Alwin. Im Meer hatte er einen Älteren getroffen, der tolle Geschichten von dem Fluss Salza und den Seen im Salzatal erzählte. Daraufhin entschied Alwin, die Gegend kennenzulernen und schloss sich der Gruppe an, die in die gleiche Richtung unterwegs war. 

Alwins Reise dauerte mehr als zwei Jahre, bis er endlich von der Saale in das Flüsschen Salza abbog. Doch auch wenn er schon viele spannende Orte gesehen und Abenteuer erlebt hatte, er war noch immer neugierig wie ein junger Aal. So kam es, dass Alwin auf seiner Reise am Salzsee bei Langenbogen vorbeikam. Nur kurz wollte er abbiegen, eine Pause einlegen und sich etwas umsehen. Doch das Gewässer war viel größer, als es auf den ersten Blick aussah. Alwin schwamm lange Zeit planlos darin herum. Der schlammige Grund gefiel ihm besonders gut und er konnte nicht genug von den Schlammwolken bekommen, die sich beim Auftauchen bildeten. Immer wieder stürzte er sich hinein, drehte sich wie ein Wirbelwind und tauchte wieder auf. Erst als die Dämmerung einsetzte, unterbrach er sein Spiel und begann nach dem Rückweg in den Fluss zu suchen. Doch oh weh! In dem vielen verwirbelten Schlamm und dem Dämmerlicht fand er den Ausgang nicht mehr. Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als im See zu übernachten. Alwin zog sich ins Schilf zurück und ehe er sich richtig zusammengerollt hatte, war er schon vor Erschöpfung eingeschlafen.

Am nächsten Morgen streifte er stundenlang durchs Gewässer. Er sah in alle Ecken, aber der Weg zum Fluss blieb verschwunden. Stattdessen glaubte er, im trüben Wasser Häuser zu erkennen, und ein Schatten sah sogar aus wie ein Bus. Träumte er jetzt schon? Oder hatte er vor lauter Hunger Wahnvorstellungen? Denn inzwischen war es lange Zeit her, dass er das letzte gegessen hatte. Alwin wusste, dass es sehr unhöflich war, in einem fremden See auf die Jagd nach kleinen Fischen zu gehen, aber ohne dies, würde er nicht überleben. Und so fing er sich einen Imbiss und fühlte sich gleich wieder besser. Als er auch am darauffolgenden Tag keinen Ausweg fand, beschloss er, sich notgedrungen in einer Ecke des Sees einzurichten und darauf zu warten, dass es aufklarte und sich der Rückweg zeigte. Um nicht zu verhungern, fing er sich aller drei Tage ein paar kleine Fische. Aber zu viele wollte er auch nicht fressen, schließlich sollte niemand im See seine Anwesenheit bemerken. Wer weiß, wer in den alten Häusern und in dem Bus lebte. 

Eines Abends schwamm Alwin mitten durch eine herrlich trübe Schlammwolke und kam dabei den Häusern bedenklich nahe. Vor ihm trieb ein kleiner Fisch und schien geradewegs auf ihn zu warten. Neugierig folgte er dem Kleinen, der flink den Steinen und Ästen auswich, die wie Hindernisse im Wasser lagen. Mit einem Mal war der Fisch verschwunden. Ehe Alwin reagieren konnte, tauchte aus dem Nichts eine Hauswand vor ihm auf. Rums! Sein Kopf prallte mit einem dumpfen Knall dagegen und sein Körper sackte schlaff zu Boden. Als er wieder zu sich kam, war er rundherum von Wänden umgeben und an einer Seite versperrte ihm ein Fischernetz den Weg. Oh nein, er saß in der Falle!

Alwin kochte vor Wut. Wie ein wildgewordener Pfeil zischte er im Zickzack durch das Wasser. Aber es half nichts. Er war gefangen! Und es gab keinen Ausweg. Er musst einsehen, dass er mit Kraft auch nicht weiterkam. Also suchte er sich die dunkelste Ecke und rollte sich ganz klein zusammen. Wenn er nicht mehr zu sehen war, würde sich vielleicht das Gefängnis öffnen. Dann könnte er entwischen.

Inzwischen tauchten immer mehr Gestalten außerhalb des Netzes auf und sahen ihn ungläubig an. Wer waren die? Und was wollten sie von ihm? Das war Alwin nicht geheuer. Er zitterte am ganzen Körper. Jetzt rief einer der Fremden: „Um Himmelswillen, das ist ja ein Aal!“ Und die anderen nickten dazu. Ja klar war er ein Aal. Aber um das herauszufinden, hätten sie ihn nicht einsperren müssen. Das hätte er ihnen auch so gesagt. Die Gestalten fragten, warum er im Salzsee war. Da nahm er allen Mut zusammen und erzählte: von seiner langen Reise, von dem Alten, der ihm vom Salzatal vorgeschwärmt hatte, von dem Entschluss die Gegend zu erkunden und von dem Abstecher in den Salzsee von dem er nun den Rückweg nicht wiederfand. Die Fremden hörten ihm aufmerksam zu. Sie stellten sich als Wassermänner und Meerjungfrauen vor und erzählten auch ihre Geschichte. 

Was für ein Glück, dass niemand dem anderen etwas Böses wollte. Im Gegenteil, die Wasserwesen ließen Alwin sofort wieder frei und versprachen, ihm zu helfen. Gegen seinen mächtigen Hunger gaben sie ihm von ihren Vorräten, so dass er schnell zu Kräften kam. Bald hatte er sich von seinem Schreck erholt und war entschlossen, die Reise fortzusetzen. Die Wassermänner und Meerjungfrauen begleiteten ihn zum Fluss und man verabschiedete sich, wie alte Bekannte.